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Mit Agrotreibstoffen aus Brasilien gegen den Klimawandel?

22. Januar 2008
von Thomas Fatheuer

Dossier: Klima und Wandel in Amazonien

Von Thomas Fatheuer
Heinrich-Böll-Stiftung, Büroleiter Regionalbüro Brasilien, Rio de Janeiro
(Erschienen im Jahrbuch Lateinamerika 31, Rohstoffboom mit Risiken, Münster 2007)


Das absehbare Ende der Erdölvorräte und die Erderwärmung verändern in geradezu atemberaubendem Tempo die Strategien der Energiegewinnung. Die Frage, welchen Stellenwert aus Pflanzen gewonnener Treibstoff in den neuen Energieszenarien spielen kann und soll, ist eine der umstrittensten Fragen, auch innerhalb der Umweltbewegung. Ein Blick in die Medien zeigt zwei sich leidenschaftlich bekämpfende Lager: die Befürworter eines massiven Ausbaus der Produktion von Agrotreibstoffen  auf der einen Seite, die Skeptiker bis radikalen Gegner auf der anderen Seite. Dabei haben sich bemerkenswerte Bündnisse gebildet: Das Großunternehmen Nestlé und die internationale Bauern- und Landarbeiterbewegung Via Campesina gehören zu den Skeptikern, während das weltweite Agrobusiness, die Welternährungsorganisation (FAO) und Vertreter der deutschen Grünen in den Agrotreibstoffen eine große Chance für die Landwirtschaft und eine unverzichtbare Größe in globalen Klimastrategien sehen. In allen Diskussionen spielt Brasilien eine wichtige Rolle. Unbestreitbar ist, dass das Land langjährige Erfahrungen in der Herstellung von Agrotreibstoffen gemacht hat. Was also können wir aus dem Beispiel Brasilien für die globale Debatte lernen?

Brasilien auf dem Weg zur Agrotreibstoff-Großmacht?

Schon 1975 startete das Pro-Alkohol-Programm der brasilianischen Militärregierung. Benzin wurde teilweise durch aus Zuckerrohr gewonnenen Alkohol ersetzt. Die Motivationen des Programms waren geopolitischer und ökonomischer Natur: Brasilien wollte seine Abhängigkeit von den Ölimporten verringern und angesichts des Ölpreisschocks in den siebziger Jahren eine ökonomisch sinnvolle Alternative entwickeln. Relativ günstige Ölpreise in den achtziger Jahren und Krisen in der Alkoholversorgung machten das Programm wirtschaftlich unsinnig und diskreditierten es bei den Verbrauchern. Die Produktion von mit Alkohol betriebenen PKWs tendierte in den neunziger Jahren gegen Null, das Pogramm überlebte ausschließlich durch die gesetzlich geregelte Beimischung von etwa 20 Prozent Alkohol in Benzin.

Drei neue Entwicklungen zu Beginn des neuen Jahrhunderts halfen dem Pro-Alkohol-Programm aus seinem Dämmerzustand heraus. 2003 kam der Flex-Fuel-Motor auf den Markt, der in beliebiger Mischung mit Benzin und Alkohol betankt werden kann. Bereits 2007 ist die große Mehrheit der in Brasilien neu zugelassenen Autos mit diesem Motor ausgestattet. Die neue Beliebtheit des Alkohols ist auch der Tatsache geschuldet, dass nun aufgrund sinkender Produktionskosten und steigender Ölpreise die Produktion von Agrotreibstoffen konkurrenzfähig geworden ist. Und schließlich gewinnen im Rahmen der Klimadebatte Agrotreibstoffe eine neue, vorher nicht geahnte Dimension: Sie könnten einen Beitrag zur Verringerung der Treibhausgase leisten. Damit steht nicht mehr nur die ökonomische Viabilität, sondern auch die Ökobilanz von Agrosprit zur Debatte.

Alkohol, auch Ethanol genannt, kann Benzin ersetzen. Seine Produktion erfolgt auf der Basis zucker- oder stärkehaltiger Pflanzen, in der Regel Zuckerrohr, Zuckerrüben oder Mais. Im internationalen Vergleich ist Zuckerrohr deutlich die wirtschaftlichste Alternative und dies nährt die Hoffnung Brasiliens, eine Alkoholgroßmacht zu werden.

Für den Ersatz von Diesel, der gerade für den öffentlichen und den Gütertransport von entscheidender Bedeutung ist, sind hingegen ölhaltige Pflanzen gefragt. Eine breite Palette von Möglichkeiten reicht vom wenig ölhaltigen Soja bis zu den hochergiebigen Ölpalmen. Um auch an der Dieselfront voranzukommen, verkündete die Regierung von Ignacio de Silva Lula 2005 das Nationale Biodieselprogramm. In seiner sozialen Ausrichtung ist der Ansatz des Programms bemerkenswert und verdient besondere Beachtung, da es speziell Kleinbauern fördert und integrativ wirkt. Das Klimaargument spielte indes bei der politischen Begründung des Programms keine Rolle. Da sich das Biodieselprogramm in seiner Anfangsphase befindet, können weitergehende Bewertungen noch nicht vorgenommen werden.

Für eine ernsthafte Diskussion ist die Unterscheidung zwischen der Ethanolerzeugung und dem Biodieselprogramm fundamental. Positive Aspekte der Biodieselproduktion können nicht generell als Argumente für die Produktion von Agrotreibstoffen vorgebracht werden.

Brasilien vor einem neuen Zuckerboom?

Nach Angaben von Élvio Gaspar, dem Direktor der brasilianischen Entwicklungsbank BNDES, steht in den nächsten Jahren ein Fördervolumen von etwa sechs Milliarden US-Dollar für 62 Agrotreibstoff-Projekte bereit. Für die BNDES sind diese Projekte eine neue Priorität. „Die Finanzierungen verdoppeln sich jedes Jahr“, erklärt Gaspar euphorisch. Aufschlussreich ist, dass die Agrodieselproduktion jedoch eine untergeordnete Rolle spielt (vgl. Valor Económico, 27.03.07). Die Expansionsaussichten lassen den ehemaligen Landwirtschaftsminister und jetzigen Ethanol-Promoter Roberto Rodriguez schwärmen: „Wir haben den Schlüssel in der Hand, um die Zivilisation zu ändern“ (ebd). Was sich zunächst auf jeden Fall ändern wird, ist die Landnutzung in Brasilien. Dabei ist es nicht einfach, in der Vielfalt an Zahlen, die Institute und Propagandisten veröffentlichen, zwischen Phantasie und realistischen Szenarien zu unterscheiden. Unbestritten ist lediglich, dass derzeit etwa sechs Millionen Hektar Land mit Zuckerrohr bepflanzt werden. Das ist weitaus weniger Fläche, als derzeit für Soja genutzt wird, das mit fast 22 Millionen Hektar Anbaufläche nach wie vor das wichtigste landwirtschaftliche Produkt ist. Die gesamte Anbaufläche Brasiliens summiert sich auf 62 Millionen Hektar. Der größte Flächenverbrauch geht allerdings auf das Konto der Viehwirtschaft. Etwa 200 Millionen Hektar werden als Weide genutzt.

Für die Forscher des Interdisziplinären Instituts für Energieplanung (NIPE) der Universität von Campinas, das als Exzellenzzentrum eine gewisse Meinungsführerschaft errungen hat, ist eine Ausweitung auf 30 Millionen Hektar Zuckerproduktion bis 2025 möglich und realistisch. Ausgehend von der heutigen Produktivität und der Tatsache, dass die Hälfte der Zuckerrohrproduktion zu Alkohol verarbeitet wird, ergäbe dies eine Produktion von 100 Milliarden Liter Ethanol pro Jahr. Die Menge ließe sich durch Produktivitätssteigerungen leicht erhöhen. Damit hätte Brasilien das Potenzial, zehn Prozent des weltweit verbrauchten Benzins durch Alkohol zu ersetzen.

Die Befürworter einer Expansion des Zuckerrohranbaus betonen, dass dies weder Auswirkungen auf den Regenwald hätte, noch die Nahrungsmittelproduktion gefährden würde. Der bereits zitierte Roberto Rodrigues argumentiert, dass sich die gesamte bisher in Brasilien landwirtschaftlich genutzte Fläche von 62 Millionen Hektar auf 152 Millionen ausdehnen ließe, so dass Zuckerrohr maximal 20 Prozent der Fläche verbrauchen würde. „Wir können also“, so Rodriguez, „die Anbaufläche von Zucker bedeutend ausdehnen und gleichzeitig (durch Produktivitätssteigerung, T.F.) die Erzeugung von Nahrungsmitteln verdreifachen“ (Pagina 22, 2007, Nr. 6, S. 31).

Zerstört Zuckerrohr den Regenwald?

Die erste Antwort sollte ein zurückhaltendes „nein“ sein. Tatsächlich ist die Ausweitung des Zuckerrohranbaus im Augenblick keine unmittelbare Bedrohung für den Regenwald im Amazonas. 80 Prozent der derzeitigen Anbaufläche des Zuckerrohrs finden sich im Südosten Brasiliens, vorwiegend im Bundesstaat São Paulo und damit in einer Entfernung von mehr als 2.000 Kilometern von den großen Regenwaldgebieten Brasiliens.

Die Frage nach den Folgen des Zuckerrohranbaus für den Regenwald löst eine falsche Diskussion zum falschen Zeitpunkt aus. Denn: Die Fixierung auf die Regenwaldzerstörung legt die fatale Konsequenz nahe, dass wenn der Regenwald nicht betroffen ist, alles in Ordnung sei. Eine solche Diskussion liefert also lediglich eine Steilvorlage für die Agrotreibstofflobby.

Die sozio-ökologische Dynamik in Brasilien ist komplexer, als es die Szenarien von NIPE oder Roberto Rodriguez vermuten lassen. Letztere betrachten die Anbaufläche Brasiliens aus der Satellitenperspektive, ganz so, als gäbe es eine zentrale Instanz, die die Flächennutzung reguliert. In der marktwirtschaftlichen Ordnung sind es jedoch die Hände des Marktes, die bis heute auf Satellitenbildern nicht erscheinen. Wir sollten also zunächst zugestehen, dass das Problem der Flächennutzung komplex ist und kaum durch reines Flächennutzungsmanagement zu regeln ist.

Ein Beispiel: Die zentrale Argumentation der Zuckerrohrpropagandisten ist, dass die Substitution extensiv genutzter Weideflächen durch den intensiven Zuckerrohranbau nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern auch leicht umsetzbar sei. Dies mag in den Hochburgen des Zuckerrohranbaus durchaus zutreffen. Aber gilt es auch auf nationaler Ebene? Laut Angaben des offiziellen Statistikinstituts IBGE ist zwischen 2002 und 2005 die Zahl der Rinder in der Amazonasregion stark angestiegen, im Bundesstaat Pará um 48 Prozent und in Rondonia um 41 Prozent. Diese beiden Bundesstaaten sind die wichtigsten Fleischproduzenten der Amazonasregion. Die Zahlen belegen zwar in keiner Weise eine unmittelbare Verdrängung der Viehzucht aus dem Südosten in die Amazonasregion im Norden Brasiliens, zeigen jedoch einen nationalen Trend der letzen Jahre: die Verlagerung der Viehzucht nach Norden. Zuckerrohr ist und wird hierbei nur ein Faktor unter anderen sein. Angesichts dieses Trends ist zu erwarten, dass Zuckerrohr die Verlagerung der Viehwirtschaft in andere Regionen fördert. Diese Auswirkung ist für die Abwägung der öko-sozialen Konsequenzen eines ausgedehnten Zuckerrohranbaus zentral. Die Soziologen Wendell Ficher Assis und Marcos Cristiano Zuccarelli haben eine der ersten Feldforschungen über die regionalen Auswirkungen des Anbaus von Agrotreibstoffen in São Paulo und Minas Gerais vorgelegt. Zentral sind folgende Aussagen: „Die traditionellen Viehzüchter des Dreiecks Triangulo Mineiro, eine Region im Bundesstaat Minas Gerais, verpachten oder verkaufen ihr Land an die Leute vom Zucker und gehen dann nach Tocantins, Rodonia oder Mato Grosso (also in Amazonasstaaten, T.F.), um Vieh zu züchten.“ (Assis, Zuccarelli 2007, S. 6.)
Auch wenn Zuckerrohr zunächst nicht oder nur in geringem Umfang im Amazonasgebiet angebaut wird, so kann die Ausdehnung seiner Produktion dennoch den Druck auf den Regenwald verstärken.

Vormarsch der Monokulturen

Die Frage der Beziehungen zwischen Viehzucht und Zuckerrohanbau führt zu einem zentralen Punkt der Debatte über Agrotreibstoffe: Zuckerrohr, wie auch andere Produkte, dehnt sich nicht in einem leeren Raum aus, sondern ist eingebunden in komplexe ökonomische und soziale Dynamiken, über die wir zu wenig wissen. Die Landwirtschaft Brasiliens unterlag in den letzten Jahren drastischen Änderungen, die auch als „konservative Modernisierung“ bezeichnet werden. Unproduktive Latifundien haben sich in hochproduktive Betriebe verwandelt, das Agrobusiness ist zu einer der großen Boombranchen der letzten zwanzig Jahre geworden. Präsident Lula hat das Bündnis mit dem Agrobusiness zu einem Grundstein seiner Politik gemacht.  Konservativ ist diese Modernisierung, weil sie an den bestehenden Besitzverhältnissen nichts ändert, sondern auf der hohen Konzentration von Landbesitz aufbaut. Motoren und Nutznießer dieser Modernisierung sind die Großgrundbesitzer, nicht jedoch eine bäuerliche oder mittelständische Landwirtschaft. Diese wird vielmehr zusehends marginalisiert.

Die Ausdehnung der Sojaproduktion ist das vielleicht markanteste Beispiel für diesen Prozess und hat international Aufmerksamkeit erregt. Zwischen 1995 und 2005 hat Brasilien seine Sojaproduktion verdoppelt. Mit 22 Millionen Hektar beansprucht Soja von allen Agrarprodukten mit Abstand die größte Fläche, mehr als dreimal soviel wie Zucker. Durch Neuzüchtungen konnte sich der Sojaanbau immer weiter in den Norden ausdehnen. Heute ist der Bundesstaat Mato Grosso der wichtigste Sojaproduzent und zugleich der Bundesstaat, der am stärksten zur Vernichtung von Amazonaswald beiträgt. Die nationalen und internationalen Alarmglocken schrillten, als Sojaproduzenten mitten im Amazonasgebiet, in der Gegend von Santarém, Felder anlegten.

Aber es geht nicht nur um Soja. In geradezu schwindelerregender Expansion befindet sich der Anbau von Eukalyptus und Kiefern. Zurzeit werden 5,3 Millionen Hektar mit Waldmonokulturen bepflanzt, drei Millionen davon mit Eukalyptus. Bis 2020 soll sich die Anbaufläche von Eukalyptus auf 13,8 Millionen Hektar ausdehnen.  Auch die Viehwirtschaft denkt keineswegs daran, ihre Flächen großmütig den Zuckeranbauern zu übertragen, sondern expandiert ungebremst weiter. Im Jahre 2006 errang Brasilien zum ersten Mal die Position des größten Fleischexporteurs der Welt. Das bedeutet, dass sich die zu erwartende Expansion des Zuckerrohranbaus in einen Prozess der Ausdehnung von Monokulturen einreiht.

„Alkohol statt Benzin“ mag eine interessante Idee in der internationalen Klimapolitik und auch eine gute Profitquelle sein. Die Produktion erfolgt jedoch unter Bedingungen, die ökologisch und sozial bedenklich sind. Die Ausdehnung der Monokulturen hat in den letzten Jahren in Brasilien Entwicklungsmöglichkeiten bäuerlicher und ökologischer Landwirtschaft eingeschränkt, Investitionen konzentriert und sensible Ökosysteme beschädigt. Und sie hat den Druck auf den Regenwald erhöht.

Die oben zitierten Ausdehnungsszenarien von Rodrigues und anderen kennen nur aktuelle und potenzielle Anbauflächen, keine Ökosysteme. Wenn sich die Ausdehnung der Zuckerrohrproduktion nicht im Amazonasraum abspielt, dann wird das Cerradogebiet der Schauplatz sein, wie dies zum Teil bereits der Fall ist. Das Cerradogebiet, eine artenreiche Baumsteppe südlich der Amazonasregion, ist das Quellgebiet der meisten großen Flüsse Brasiliens. Es steht als gefährdetes Ökosystem unter besonderem Schutz und ist in den letzten Jahren durch die Ausdehnung von Monokulturen bereits stark unter Druck geraten. Bislang gibt es keine Untersuchung über die ökologischen Konsequenzen einer massiven Ausweitung von Monokulturen auf das Cerradogebiet.

Was wissen wir eigentlich?

Der Vormarsch der Monokulturen ist folglich keine Schreckensvision alarmistischer Nichtregierungsorganisationen und radikalisierter Landloser, sondern die beobachtete und unterschiedlich bewertete Tendenz der Landnutzung in Brasilien. Berater des Agrobusiness, die den Zuckerrohranbau nicht befürworten, betonen gerade diese diversifizierte Expansion: „Der Zuckerrohranbau wird zunehmen, aber da andere cluster mit großem Wachstumspotenzial existieren, insbesondere die Viehzucht, werden wir eine größere Diversifikation haben“, behauptet Marco Fava Neves vom Institut PENSA der Bundesuniversität von São Paulo (USP), einem wichtigen Think Tank des Agrobusiness (Valor Economica, 21.05.2007). Die Analysten, die ihren Blick auf die potenziellen Entwicklungen des gesamten Agrarsektors richten, teilen in der Regel nicht die exorbitanten Wachstumsszenarien à la Rodrigues und UNICA. Guilherme Dias, ebenfalls von der USP, hält nichts von solchen Aussichten. „Diese Vorhersagen sind nicht realistisch. Wir werden nicht eine Million Hektar neue Anbaufläche pro Jahr haben, aber genug, um das Angebot an Alkohol zu verdoppeln.“ RC Consultores, eine einflussreiche Beratungsorganisation, geht von einem ähnlichen Szenario aus. Wenn Brasilen 2006 und 2007 eine Ernte von 17,7 Milliarden Liter produzierte (http://www.portalunica.com.br/), dann ist für 2015 eine Steigerung auf 33 Milliarden realistisch. Den internen Bedarf schätzt RC Consultores auf 28 Milliarden Liter, es bliebe also mit etwa fünf Milliarden Liter eine verschwindend geringe Menge für den Export übrig. Dies würde dann auch alle Anstrengungen einer Zertifizierung mit sozialen und ökologischen Standards als viel Lärm um (fast) nichts ad absurdum führen.

Bevor die internationale Umweltgemeinde vorschnell viel Geld und Energie auf bestimmte Lösungsansätze verwendet, sollten wir uns eingestehen, dass wir sehr wenig über die Entwicklungsmöglichkeiten des Agroalkohols in Brasilien wissen. Wie wird sich die von den USA forcierte Maisproduktion zur Benzinsubstitution auf den internationalen Sojamarkt und damit auf die Sojaproduktion in Brasilien auswirken? Wie wird sich der Fleischmarkt angesichts der wachsenden Nachfrage Chinas und der arabischen Länder entwickeln? Welchen Einfluss hat der Wechselkurs auf den Zuckermarkt? Wie werden sich die Bodenpreise entwickeln? Lediglich eine Tatsache erscheint plausibel: Die Perspektive einer exorbitanten Ausweitung der Anbaufläche für Zuckerrohr bei gleichzeitiger Expansion der Viehwirtschaft, des Sojanbaus und der gepflanzten Wälder ist ein Horrorszenario für die betroffenen Ökosysteme, einschließlich des Regenwaldes.  Dass angesichts dieses Szenarios die Zertifizierung eines Produktes hilfreich sein könnte, wird von den brasilianischen Umweltschützern bezweifelt – zumal die Zertifizierung von in Monokultur gepflanzten Wäldern durch den Forest Stewardship Council (FSC)  die Skepsis gegenüber dem Instrument Zertifizierung angesichts komplexer Entwicklungen der Landnutzung eher verstärkt hat. Hier zeigt sich eine Differenz zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren aus dem Norden und in Brasilien. Gerade die großen internationalen NGOs setzen stark auf Zertifizierungsprozesse, um den ökologischen und sozialen Problemen einer Ausweitung der Agrotreibtoff-Produktion zu begegnen.

Positionen der sozialen Bewegungen und NGOs

Immer wieder hat sich die große Mehrheit der brasilianischen NGOs und sozialen Bewegungen warnend zum Agrotreibstoffboom geäußert. Das brasilianische Forum der NGOs und sozialen Bewegungen (FBOMS), in dem auch der Gewerkschaftsdachverband CUT teilnimmt, hat 2007 eine Positionserklärung abgegeben: „Brasiliens Offensive, die Produktion und den Export von Ethanol zu steigern, wird nur die vorhandenen Probleme verstärken, die durch das Agroexportmodell geschaffen wurden, indem Brasiliens Ländereien, die natürlichen Ressourcen und das Ernährungssystem unter die Dominanz des multinationalen Agrobusiness geraten sind. FBOMS macht geltend, dass der Weg zu nachhaltiger ländlicher Entwicklung in Brasilien darin besteht, mit dem Agroexportmodell zu brechen; dies wird nur durch eine umfassende Agrarreform und eine Agrarpolitik zustande kommen, die auf Ernährungssouveränität basiert, in der Grund und Boden Nahrung und Energie für den inneren Markt produzieren – statt Kapital zu erzeugen. Aufbauend auf einen andauernden Dialog zwischen der Regierung, den sozialen Bewegungen und den NGOs arbeitet FBOMS an der Entwicklung eines neuen Paradigmas für ein Ernährungs- und Landwirtschaftssystem in Brasilien.“ (http://www.fboms.org.br/)

Auch das Netzwerk Via Campesina, das in Brasilien hauptsächlich durch die Landlosenbewegung repräsentiert wird, hat eine eindeutige Stellungnahme veröffentlicht: „Wir akzeptieren nicht, dass landwirtschaftliche Produkte, die eigentlich für die menschliche Ernährung bestimmt sind, für den Antrieb von Kraftfahrzeugen verwendet werden. Selbst im Falle der notwendigen Produktion von Agrotreibstoffen müssen sie auf nachhaltige Weise produziert werden und zwar in kleinen und mittleren Betrieben.“ (Brasilicum 2007, Nr. 158/159)

Damit haben sich in der Ethanolfrage in Brasilien relativ klare Fronten herausgebildet. Schwieriger ist die Einschätzung der Biodieselproduktion. Die großen Landarbeitergewerkschaften, die in Brasilien häufig von Kleinbauern dominiert werden, kämpfen um die dauerhafte Einbindung von Kleinbauern in das Programm. Es geht hier also nicht um das Ob, sondern eher um das Wie der Biodieselproduktion. 

Allerdings haben die ersten Erfahrungen mit dem Programm skeptischen Stimmen Auftrieb gegeben. Die grundlegende Strategie des Programms beruht darauf, dass die Produzenten, um ein von der brasilianischen Regierung geschaffenes Sozialsiegel zu erhalten, einen Teil der Rohstoffe aus Betrieben der familiären Landwirtschaft beziehen müssen. Der Anteil schwankt regional, im Nordosten sind es 50 Prozent, in Amazonien müssen lediglich zehn Prozent von Kleinbauern geliefert werden, um das Siegel und die damit verbundenen Steuerbegünstigungen zu erhalten. Obwohl Biodiesel aus einer Vielzahl von Pflanzen gewonnen werden kann, stammen etwa 70 Prozent des bisher vermarkteten Biodiesels aus der Sojaproduktion, die in der Hand großer Produzenten liegt. Das Ministerium für Agrarentwicklung, das sich speziell um die Einbindung der Kleinbauern kümmert, sieht darin jedoch eher eine Anfangsschwierigkeit als ein langfristiges Manko des Programms. Nicht von der Hand zu weisen ist aber, dass der Ausbau der Biodieselproduktion die Ausweitung des Sojaanbaus in Brasilien beflügeln könnte, da er die Vermarktungschancen von Soja erhöht und absichert.

In einem Punkt sind sich auch die Befürworter des Programms einig: Die Einbindung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft braucht Zeit und setzt dem Programm Grenzen. Das heißt, auf absehbare Zeit wird das mit einer sozialen Komponente konzipierte Programm Schwierigkeiten haben, den internen Markt zu beliefern. Als Exportprodukt steht Biodiesel also nicht zur Debatte.

Was tun?

Die hier vorgetragenen Argumente sind ein Plädoyer dafür, dass eine internationale Zertifizierung oder die Schaffung von Handelsstandards derzeit kein geeigneter Weg sind, um den Risiken zu begegnen, die mit der Ausweitung der Produktion von Agrotreibstoffen verbunden sind. Im Mittelpunkt der Debatte muss die Landnutzung in Brasilien stehen, welcher in ihrer Komplexität nicht durch Zertifizierungen beizukommen ist. Da Agrotreibstoffe auf absehbare Zeit (nach den vorsichtigeren und wohl auch seriöseren Szenarien) kein wichtiges Exportprodukt sein werden und auch nicht sein sollen, droht die Zertifizierungsdebatte doppelt ins Leere zu laufen.

Was bleibt aber dann zu tun? Brasilien verfügt über eine ausgezeichnete Umweltgesetzgebung. Dadurch sind zum Beispiel 80 Prozent der Fläche Amazoniens gesetzlich vor Abholzung geschützt. Hinzu kommen Gebiete für indigene Bevölkerung und das System von Schutzgebieten. Der nationalen Umweltbehörde IBAMA allein sind 60 Millionen Hektar an Schutzgebieten unterstellt. Die neue Generation von Schutzgebieten sieht die Beteiligung der lokalen Bevölkerung vor, eine nachhaltige Nutzung ist erlaubt und wird gefördert. Damit besteht ein riesiges Mosaik von Sondergebieten und ein reiches Netzwerk sozialer Akteure: indigene Bevölkerungsgruppen, Kautschukzapfer, Gemeinden von Schwarzen (Quilombolas), traditionelle Nutzer und Kleinbauern. Insbesondere im Amazonasgebiet würde eine Stärkung dieser sozialen Akteure und der Sondernutzungsgebiete den besten Beitrag gegen die Ausbreitung von Monokulturen und Viehweiden leisten. Dies wäre auch der bestmögliche Beitrag Brasiliens zur Reduktion von CO2. Etwa 75 Prozent der brasilianischen CO2-Emissionen kommen durch land use change, also in der Regel durch das Abbrennen der Wälder zustande.

Die bestehenden positiven Ansätze sind durch die traditionell wachstumsorientierte Politik und durch das Agrobusiness bedroht. Hier besteht ein weites Feld von Handlungsmöglichkeiten. Fatal wäre es, in dieser Situation die Ausweitung des auf Monokulturen beruhenden Agrobusiness durch einen massiven Ausbau der Alkoholproduktion zu fördern. Das bedeutet nicht, dass die Produktion von Agrotreibstoffen in Brasilien einzustellen sei. Zur nationalen, dezentralen Energieversorgung und zur Verbesserung der Ökobilanz insbesondere des Verkehrs in Megastädten macht der Einsatz von Agrotreibstoffen durchaus Sinn. São Paulo erprobt zum Beispiel im Augenblick eine Mischung aus Diesel, Agrodiesel und Alkohol für die städtischen Busse. Hier gibt es eine Reihe von interessanten und hoffungsvollen Ansätzen. Dies ist aber etwas ganz anderes als die Schaffung eines globalen Marktes für die Ware Alkohol.

Genau das aber scheint die Regierung Lula anzustreben. Den Regierungsszenarien zufolge ermöglicht der Agrotreibstoffboom Brasilien ein außerordentliches Wachstum und eine globale Rolle als Energiegroßmacht. Die Kombination von eigener Erdölförderung und Agrotreibstoffen macht Brasilien schon jetzt von Ölimporten unabhängig. Der nächste Schritt liegt demzufolge in der massiven Ausweitung der Exporte. Diese Ressourcenpolitik reiht sich in die Logik der allgemeinen Entwicklungspolitik Brasiliens ein: Wachstum um jeden Preis ist die zentrale Devise. Das Unterscheidungsmerkmal einer progressiven Regierung liegt dabei darin, Wachstum mit sozialer Inklusion zumindest partiell zu verbinden. Dafür ist die soziale Komponente des Biodieselprogramms paradigmatisch – auch in ihrer relativen Bedeutungslosigkeit verglichen mit den gesamten Investitionen in die Agrotreibstoffe. Aber diese Komponente wirkt sich für hunderttausende Familien insbesondere im Nordosten positiv aus. Die ökologischen Konsequenzen dieses Wachstumsmodells scheinen für die Regierung Lula lediglich als Wachstumshindernis von Interesse zu sein. Die nationale Umweltbehörde IBAMA und die Umweltministerin Marina da Silva sind in den letzten Jahren zunehmend als Entwicklungsblockierer ins Kreuzfeuer geraten. Megaprojekte wie die Umleitung des Rio São Francisco, neue Staudämme im Amazonasgebiet, der Ausbau der Atomenergie und eben auch die massive Förderung des Agrobusiness und der Agrotreibstoffe bilden den Kern des Entwicklungsmodells der Regierung, nach dem Motto „Big is beautiful“. Umweltpolitik existiert lediglich als ein Faktor jenseits von Entwicklungsstrategien. Diese Entwicklungsvision verstärkt den Druck auf die natürlichen Ressourcen Brasiliens und wird so dazu beitragen, die „Quellen des Reichtums“ (Marx) zu unterminieren. Solange sie allerdings zumindest kurz- oder mittelfristig Wirtschaftswachstum fördert, ist zu befürchten, dass sie als vermeintliches Erfolgsmodell weiterläuft.


Literatur:
Assis, Wendell und Zuccarelli, Marcos (2007): Despoluindo incertezas: impactos locais da expansão das monoculturas energeticas no Brasil e replicabilidade de modelos sustentáveis de produção e uso de biocombustiveis, unveröffentlichtes Manuskript, Belo Horizonte.
Berman, Celio (Hg.)(2007): As novas energias do Brasil, Rio de Janeiro.
Brasilicum (2007): Sonderheft zum V. MST-Kongress, Nr. 158/159.
Fritz, Thomas (2007): Zertifiziertes Raubrittertum – Wie NRO dem Welthandel mit Biomasse auf die Sprünge helfen, in: Lateinamerika Nachrichten Nr. 396.
Melchers, Ingo (2007): Eine Option auch für Kleinbauern, in: ila Nr. 304.
Página 22 (2007): Nr. 6, S. 31.
Schlesinger, Sergio (Hg.) (2006): Agribusiness and biofuels, Rio de Janeiro, http://www.natbrasil.org.br/Docs/biocombustiveis/biocomb_ing.pdf.
Valor Económico, 27.03.2007; 21.05.2007.
http://www.fboms.org.br/
http://www.portalunica.com.br/


Autorenhinweis:
Thomas Fatheuer, Studium der Sozialwissenschaften und klassischen Philologie in Münster, leitet seit 2003 das Regionalbüro der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro. Arbeitsschwerpunkte: Politik und Ökologie in Brasilien, Entwicklungspolitik in Amazonien, brasilianischer Fußball.